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Viertagewoche: Deutschland sollte sie ausprobieren: Kommentar

DIW Wochenbericht 20 / 2023, S. 242

Marcel Fratzscher

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Soll Deutschland die Viertagewoche einführen? Diese Frage sorgt vor allem bei Arbeitgeber*innen für Irritation: Sie plädieren für mehr „Bock auf Arbeit“ und eine Erhöhung der Wochenarbeitszeit. Auf der anderen Seite weisen Politiker*innen und manche Vertreter*innen der Gewerkschaften auf die Vorteile einer kürzeren Arbeitszeit hin – auch für Unternehmen. Diese Diskussion ist wichtig und wegweisend in Zeiten des Umbruchs, des Fachkräftemangels und des technologischen Wandels.

Eine wissenschaftliche Studie hat im vergangenen Jahr die Viertagewoche in 33 Unternehmen aus verschiedenen Ländern untersucht – und zwar bei vollem Lohnausgleich. Die Auswertung zeichnet ein sehr positives Bild: Die Produktivität der Beschäftigten pro geleisteter Arbeitsstunde stieg, die Zufriedenheit vieler Beschäftigter nahm zu. Ihre Gesundheit verbesserte sich, die Krankheitstage sanken. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbesserte sich, ebenso die Balance zwischen Männern und Frauen, mit wie viel Zeit sie sich für Kinder und Haushalt engagieren. Auch für die Unternehmen zeigten sich zahlreiche Vorteile, selbst bei vollem Lohnausgleich: Sie konnten die kürzere Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich finanziell stemmen, da neben einer höheren Produktivität die Zahl der Krankheitstage sank und weniger Beschäftigte kündigten. Und auch Staat und Gesellschaft profitierten, da die Belastung der Sozialsysteme abnahm, Menschen sich stärker ehrenamtlich engagierten und CO₂-Emissionen durch die reduzierte Mobilität gesenkt wurden. Trotzdem ist Vorsicht geboten: Solche Studien laufen immer über einen kurzen Zeitraum. Die Unternehmen kommen meist aus dem Dienstleistungsbereich, wo Arbeitszeitänderungen leichter möglich sind, und sind somit nicht repräsentativ. Eine Übertragung der Resultate auf alle Branchen, Unternehmen und Länder wäre nicht seriös.

In der Tat gibt es auch zahlreiche Argumente gegen eine verpflichtende Viertagewoche. Zum einen wird es Branchen wie etwa Chemie und Maschinenbau geben, bei denen Unternehmen an Wettbewerbsfähigkeit verlieren, wenn sie die Arbeitszeit im Vergleich zu ihren Wettbewerbern reduzieren. Zudem könnte eine Viertagewoche dazu führen, dass noch mehr Beschäftigte Nebentätigkeiten annehmen – eben an dem zusätzlichen freien Tag. Das wiederum könnte prekären Nebenbeschäftigungen Schub verleihen, wenn Unternehmen entstehende Lücken durch temporäre Arbeitsverhältnisse füllen müssen. Zudem führen Kritiker*innen der Viertragewoche an, dass Beschäftigte in Deutschland deutlich weniger als in anderen Ländern arbeiten, nämlich im Durchschnitt nur 1350 Stunden im Jahr. Zum Vergleich: In den USA sind es 1800 Stunden und in anderen Industrieländern 1750 Stunden. Allerdings geht die vergleichsweise geringe Jahresarbeitszeit in Deutschland nicht auf eine geringere Wochenarbeitszeit in Vollzeit zurück, sondern auf die hierzulande ungewöhnlich hohe Teilzeitquote, vor allem unter Frauen.

Umfragen zufolge wollen viele Menschen mit Vollzeitjobs selbst ohne vollen Lohnausgleich gern weniger Stunden arbeiten – in Deutschland im Schnitt 37 Stunden die Woche. Dagegen würden viele Beschäftigte in Teilzeit, vor allem Frauen, gern mehr Stunden arbeiten, wenn dies mit einer besseren Kinderbetreuung und Ganztagsschulen, mit mehr Wertschätzung und einer besseren Bezahlung ihrer Arbeit einherginge. Es gibt also nicht das eine perfekte Modell für alle, sondern eine große Vielfalt von Wünschen der Beschäftigten und Unternehmen.

Auch wenn es keine einfache Lösung gibt: Politik und Wirtschaft sollten sich für mehr Flexibilität und neue Modelle des Arbeitslebens öffnen. Deutschland sollte die Viertagewoche ausprobieren. Die Politik könnte Pilotprojekte starten und Anreize für Unternehmen setzen, diese zu erproben, indem sie etwa die Beiträge zur Sozialversicherung reduziert oder bei der Steuer entlastet. Selbst wenn vielen die Resultate dann nicht gefallen sollten, ist es wichtig zu verstehen, wie Wirtschaft und Gesellschaft reformiert werden können, um Vorteile für alle zu heben: für die Beschäftigten, den sozialen Zusammenhalt, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und den Sozialstaat.

Dieser Kommentar ist in einer längeren Version am 12. Mai 2023 im Rahmen von „Fratzschers Verteilungsfragen“ bei ZEIT Online erschienen.

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