Blog Marcel Fratzscher vom 27. Januar 2023
Fast eine Million Menschen in Deutschland leben von ihrem Vermögen. Das ist jedoch in mehrfacher Hinsicht ein Problem – für Gesellschaft, Staat und sogar die Wirtschaft.
809.000 Deutsche müssen nicht arbeiten – diese Headline der Onlineplattform Statista in meinem Tweet zu Jahresbeginn hat eine Welle an Empörung ausgelöst. Vor allem auch, weil sich diese Zahl in den vergangenen zehn Jahren fast verdoppelt hat. Die Zahl bedeutet, dass 809.000 Menschen für ihren Lebensunterhalt nicht arbeiten müssen, sondern von den Renditen und Einkünften ihrer Vermögen leben – sie sind also Rentiers.
Ist es ein Problem, wenn immer mehr Menschen für ihren Lebensunterhalt nicht mehr auf produktive Arbeit angewiesen sind? Für die einen ist die Antwort ein klares Ja, viele sehen darin eine schreiende Ungerechtigkeit. Für die anderen ist die Antwort ein klares Nein und die Zahl eher ein Zeichen des Erfolgs. Für fast alle Betroffenen dürfte es ein Segen oder gar Befreiung sein, dass sie die Sicherheit eines großen Vermögens haben. Aus der Perspektive der betroffenen Individuen mag man die steigende Zahl daher in der Tat als Erfolg werten.
Aus gesellschaftlicher Perspektive ist diese Zunahme von Rentiers, die vom Ertrag ihres Vermögens leben können, jedoch aus vier Gründen problematisch. Das erste Problem bezieht sich auf die Bedeutung von produktiver Arbeit in unserer Gesellschaft. Es besteht ein breiter gesellschaftlicher Konsens, dass wir Arbeit eine hohe Wertschätzung entgegenbringen, denn sie ist die Grundlage für Wohlstand, für sozialen Frieden und letztlich für unsere Demokratie. Immerhin besteht auch ein breiter Konsens darüber, dass die Bezieherinnen und Bezieher des Bürgergelds alle Möglichkeiten und Anreize haben sollten, um zu arbeiten. Warum also sollte dies dann nicht auch für Hochvermögende gelten — zumal diese häufig auch eine exzellente Bildung und Ausbildung genossen haben? Es gibt keinen guten Grund, mit zweierlei Maß zu messen.
Nun mag man einwenden, auch das Verwalten von Vermögen sei Arbeit. Die allermeisten der genannten 809.000 Menschen werden jedoch keine Finanzprofis sein, sondern das Verwalten ihres Vermögens an Profis in der Finanz- oder Immobilienbranche delegieren. Dadurch entsteht ein Schaden für die Gesellschaft durch eine steigende Zahl von Rentiers: Denn damit entgehen der Gesellschaft viele produktive Köpfe und Fähigkeiten.
Die Vermögensverwalter*innen und Manager*innen im Finanzsystem verdienen hohe Gehälter und genießen Privilegien, woran sich trotz einer riesigen globalen Finanzkrise 2008–2009 wenig geändert hat. Das Risikoverhalten in der Finanzbranche hat damals einen enormen gesellschaftlichen Schaden angerichtet, der noch heute zu spüren ist. Wirtschaft und Gesellschaft wären besser dran und wohl produktiver, wenn die klügsten Köpfe nicht in hoch bezahlte Jobs in der Finanzbranche gingen, sondern ihre Fähigkeiten für die Erforschung von Krebsmedikamenten oder die Entwicklung nachhaltiger Technologien nutzen würden.
Dieser Text erschien am 27. Januar 2023 bei Zeit Online in der Reihe Fratzschers Verteilungsfragen.
Ein zweites Problem einer wachsenden Zahl von Vermögenden ist, dass sie den Wohlstand einer Gesellschaft reduziert. Eine Studie zeigt, dass Deutschlands Milliardäre über 100 Milliarden Euro an zusätzlichen Vermögen während der Corona-Pandemie aufbauen konnten. Der gesellschaftliche Nutzen wäre enorm, wenn einige dieser Milliarden Euro für Investitionen in ein besseres Gesundheitssystem oder den Klimaschutz genutzt würden und nicht nur das Privatvermögen einiger weniger mehren. Das Grundgesetz sagt, dass Vermögen verpflichtet und die stärksten Schultern in unserer Gesellschaft auch die größte Last tragen müssen. Die Realität in Deutschland ist jedoch eine andere, gerade nach zwei tiefen und sozial polarisierenden Krisen.
Das dritte Problem einer wachsenden Anzahl von Hochvermögenden in der Gesellschaft ist die Aushöhlung unserer Demokratie. Geld bedeutet Macht. Bei Weitem nicht alle, aber viele nutzen ihr Vermögen, um ihre Interessen zu wahren. Ob Familienunternehmen, Industrie oder die Finanzbranche, alle haben eine laute und einflussreiche Stimme im politischen Berlin und in Brüssel. Demgegenüber stehen immer mehr Menschen ohne Ersparnisse und Vermögen, die kaum ihren Lebensunterhalt bestreiten können und sich immer häufiger aus dem politischen Diskurs zurückziehen, nicht wählen oder in den Widerstand und Protest gehen. Ein Blick in die USA zeigt, wohin das führen kann.
Das vierte Problem ist ein wirtschaftliches. Hohe Vermögen sind immer auch ein Gegenpol zu Schulden, vor allem den Schulden des Staates. Gleichsam mit den Vermögen der Hochvermögenden weltweit sind die Staatsschulden in den vergangenen beiden Jahrzehnten angestiegen. Wenn der Staat seine Ausgaben nicht durch Steuereinnahmen decken kann, dann steigt seine Verschuldung oder er muss seine Ausgaben senken. Ein erheblicher Teil der Staatsverschuldung sind die Vermögen vor allem Hochvermögender. Der deutsche Staat lebt seit mindestens 20 Jahren von seiner Substanz: Die Nettoinvestitionen sind negativ, die Infrastruktur verfällt, das Bildungssystem ist kaum wettbewerbsfähig, das Gesundheitssystem ist unzureichend. Und wir sind auf dem schlimmsten Weg in der doppelten Krise von Klimawandel und Biodiversitätsverlust, womit wir künftigen Generationen ihre Lebensgrundlage berauben. Demgegenüber steht eine steigende Staatsverschuldung, auch wenn diese in Deutschland deutlich geringer ist als in den meisten anderen Industrieländern.
Aus diesen vier Gründen ist die hohe und zunehmende Ungleichheit bei privaten Vermögen in Deutschland aus sozialer wie aus wirtschaftlicher Perspektive ein großes Problem. Dieses Versagen des Staates bei der Daseinsfürsorge und bei guten Rahmenbedingungen für die Wirtschaft gefährdet den Wohlstand künftiger Generationen. Die Bundesregierung steht jetzt vor der schwierigen Frage, ob und wie sie die Schuldenbremse 2024 wieder einhalten will, und zwar ohne Trickserei mit Schattenhaushalt und Sondervermögen. Wenn die Bundesregierung ihren Auftrag von Zukunftsinvestitionen in Klimaschutz, Nachhaltigkeit, ein gutes Bildungssystem oder eine Modernisierung der Sozialsysteme ernst nimmt, dann wird in Zukunft kein Weg daran vorbeiführen, Steuern zu erhöhen und Mehreinnahmen zu generieren.
Die gute Nachricht ist: Die Lösungen liegen auf der Hand. Die erste ist eine grundlegende Steuerreform, die Menschen mit mittleren und geringen Arbeitseinkommen entlastet und gleichzeitig große Vermögen stärker heranzieht, um diese angemessener an den gesellschaftlichen Aufgaben zu beteiligen. Die USA, Großbritannien oder Frankreich haben drei- bis viermal höhere Einnahmen durch vermögensbezogene Steuern. Daher ist das Argument, eine stärkere Belastung von Vermögen schaffe einen wirtschaftlichen Schaden, ohne jegliche Grundlage und Rechtfertigung. Eine Reform der Erbschaftssteuer, mit einer effektiven Flat Tax von 15 Prozent, und eine deutlich höhere Grundsteuer sind die offensichtlichen Antworten.
Und zweitens sind Reformen im Arbeitsmarkt erforderlich, die den Niedriglohnsektor reduzieren und Menschen ermöglichen, unter besseren Arbeitsbedingungen tätig zu sein. Die Politik sollte vor allem den 40 Prozent der Menschen in Deutschland bessere Chancen geben, die heute keinerlei private Ersparnisse oder Vorsorge haben. Mehr Chancengleichheit im Bildungssystem und zwischen Männern und Frauen, gezieltere Entlastungspakete für Menschen mit niedrigen Einkommen sowie Reformen der Sozialsysteme helfen ebenfalls, um die riesige Ungleichheit bei Vermögen und damit den Lebensbedingungen wieder etwas zu korrigieren. Diese überfälligen Reformen würden verhindern, dass wir uns noch stärker zu einer Rentier-Gesellschaft entwickeln, und im Gegenzug vielen Menschen ermöglichen, wieder mehr Chancen schaffen.
Themen: Arbeit und Beschäftigung , Ungleichheit , Verteilung