Blog Marcel Fratzscher vom 20. Januar 2023
Als Friedrich Merz am 10. Januar in der Sendung Markus Lanz von den "kleinen Paschas" sprach, war ich einer der Gäste der Sendung. Ich habe ihm zwar in anderen Punkten widersprochen, aber zu diesen Aussagen habe ich geschwiegen. Und das bereue ich zutiefst. Erst am nächsten Tag habe ich öffentlich Stellung bezogen, auch zu den angeblich übergriffigen Eltern mit arabischen Wurzeln, die sich nicht an Regeln hielten und staatliche Autorität in Deutschland nicht respektierten.
Als Mensch und als Bürger ist mir der erste Satz des Grundgesetzes sehr wichtig: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Solche Aussagen, nicht nur zu arabischen Vätern und kleinen Paschas, sondern auch beispielsweise zu "Sozialtourismus" und zum Bürgergeld, treten die Würde vieler Menschen in unserem Land mit Füßen. Sie stellen ganze Gruppen von Minderheiten unter Generalverdacht von Fehlverhalten, Kriminalität oder gescheiterter Integration.
Als Wissenschaftler lese ich Analysen und Studien, die den enormen gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Schaden eines derart geführten Diskurses herausstellen. Die genannte Aussage von Friedrich Merz, wie auch ähnliche Aussagen von zahlreichen Menschen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, sind blanker Populismus. Friedrich Merz hat eine Frage zur generellen Integration mit einem Einzelbeispiel einiger arabischstämmiger Väter und ihrer Söhne beantwortet. Das von ihm genannte Beispiel der Lehrerin mag der Wahrheit entsprechen. Aber indem er eine allgemeine Frage über Integration mit dem genannten Einzelbeispiel beantwortet, stellt er die gesamte Gruppe von Menschen mit arabischen Wurzeln unter Generalverdacht und suggeriert, dieses Verhalten sei die Norm und nicht die Ausnahme.
Dieser Text erschien am 20. Januar 2023 bei Zeit Online in der Reihe Fratzschers Verteilungsfragen.
Und hier liegt die Manipulation und letztlich die Wurzel von Populismus: Aus einem Einzelfall wird ein falsches Bild über eine ganze Gruppe gezeichnet. Daher ist es nicht verwunderlich, dass nach den Angriffen in der Silvesternacht Menschen so empört reagieren, die sich dieser Gruppe zugehörig fühlen, wie Polizistinnen und Polizisten oder Rettungskräfte mit Migrationsgeschichte. Denn vielen von ihnen ist bewusst, dass diese Straftaten auf sie selbst zurückfallen und ihren hart erarbeiteten Respekt in der Gesellschaft infrage stellen.
"Das wird man ja wohl noch sagen dürfen, es ist doch auch zutreffend", ist häufig der Einwand der Verteidiger solcher Aussagen. Sie monieren, man wolle ihre Redefreiheit beschneiden oder Straftäter verteidigen. Dies ist jedoch weder zutreffend noch der Punkt. Mit der impliziten oder expliziten Verallgemeinerung werden ganze Gruppen unter Generalverdacht gestellt und letztlich in Mithaftung genommen. Dieser Populismus trägt zu einer zunehmenden gesellschaftlichen Spaltung bei, durch die sich viele aus den betroffenen Gruppen zurückziehen, bewusst abgrenzen und schützen wollen. Dies verschärft bestehende soziale Konflikte und gefährdet letztlich eine bessere Integration, den sozialen Frieden und den gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Somit führt der Populismus zu einem zunehmenden Protektionismus, also zu dem Versuch gesellschaftlicher Gruppen, ihre eigenen Interessen zu schützen und sich von anderen gesellschaftlichen Gruppen, Religionen, Ländern und Kulturen abzugrenzen. Wie schädlich dieser Protektionismus ist, zeigt die gegenwärtige Debatte in Deutschland um Zuwanderung von außerhalb Europas. "Lieber Kinder als Inder" hieß es schon vor mehr als 20 Jahren. Und nun will man von mancher Seite erst Abschiebungen vornehmen, bevor man über neue Gesetze zur Zuwanderung verhandelt. Man müsse Sozialtourismus verhindern und dürfe die deutsche Staatsbürgerschaft nicht zur Ramschware machen.
Dies sind nur Beispiele, aber diese Mentalität, Zuwanderung nur zuzulassen, wenn es sich um wenige, hochqualifizierte Arbeitskräfte handelt, spiegelt sich auch in den bisherigen Regeln der Zuwanderung wider, vor allem dem Fachkräftezuwanderungsgesetz von 2020. Dort wurden die Hürden für Qualifizierung, Deutschkenntnisse und finanzielle Voraussetzungen so hoch gesetzt, dass – nicht überraschend – keine nennenswerte Zuwanderung zu verzeichnen war. Die neue Bundesregierung versucht, dies jetzt zu korrigieren, wird aber wohl auf großen politischen Widerstand stoßen.
Mit dieser Mentalität, dass Deutschland für alle das Paradies auf Erden sei, Zuwanderer nur wegen hoher Sozialleistungen nach Deutschland kommen wollten und sich eh nicht gut integrieren, vor allem, wenn sie arabische Wurzeln haben, wird selbst bei den offensten und tolerantesten Gesetzen dazu führen, dass wenige Menschen nach Deutschland kommen wollen. Wer möchte schon in Deutschland ein neues Zuhause aufbauen, wenn ihm von Anfang an signalisiert wird, lediglich Bürgerin zweiter Klasse zu sein?
Der wirtschaftliche Schaden dieses Populismus und Protektionismus ist groß. Schon jetzt müssen jedes Jahr mehr als 500.000 Menschen zusätzlich in Deutschland in den Arbeitsmarkt kommen, um das Fachkräfteproblem nicht größer werden zu lassen. Dies ist ein existenzielles Problem für viele Unternehmen. Es geht nicht um Wachstum und Renditen, sondern um die blanke Existenz vieler Unternehmen und damit auch die Arbeitsplätze von Deutschen. Wenn sie keine Ingenieurinnen, Programmierer, IT-Experteninnen, Pflegekräfte oder Logistikexperten bekommen können, dann werden diese Unternehmen nicht überleben. Kurzum, der Wohlstand, den Deutschland sich in den vergangenen 70 Jahren hart erarbeitet hat, steht auf dem Spiel, wenn es in Deutschland keinen Mentalitätswandel, nicht mehr Offenheit und nicht mehr Wertschätzung für Vielfalt und Diversität gibt. Diese Wahrheit scheint bei manchen Verantwortlichen in der Politik noch nicht angekommen zu sein.
Populismus und Protektionismus haben als Konsequenz eine Paralyse, also die Unfähigkeit, notwendige Reformen und Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft vorzunehmen. Es ist schwierig bis unmöglich, Reformen wie das Bürgergeld umzusetzen und Akzeptanz dafür zu schaffen, wenn der falsche Eindruck in der Öffentlichkeit entsteht, Bezieherinnen und Bezieher wollten nicht arbeiten, sondern sich in die soziale Hängematte legen.
Die Paralyse macht auch dringende Fortschritte beim Klimaschutz unmöglich, wenn der Eindruck entsteht, Klimaaktivistinnen und Klimaaktivisten seien kriminell und würden unseren Wohlstand gefährden. Auch hierzu hat Friedrich Merz in der Sendung Markus Lanz am 10. Januar beigetragen, indem er die Demonstrierenden in Lützerath mit den Straftätern der Silvesternacht gleichsetzte.
In einer solchen Stimmung der Polarisierung ist es nicht überraschend, wenn Menschen ihre (vermeintlich besten) eigenen Interessen in den Mittelpunkt stellen und damit der soziale Friede und Solidarität geschwächt werden. Klimaschutz, die digitale Transformation, Innovation mit den nötigen Fachkräften aus dem Ausland und die Erneuerung des Sozialstaats werden in einer solchen Stimmung unmöglich sein.
Wir sehen zunehmend eine Verrohrung des öffentlichen Diskurses. Begriffe wie "Klimaterroristen", "kleine Paschas" oder "Sozialtourismus" sind geistige Brandstiftung, die Populismus, Protektionismus und Paralyse verstärken und kaum umkehrbar machen. Es ist höchste Zeit für einen verantwortlichen öffentlichen Diskurs, in dem allen voran Politiker und Politikerinnen, die in einer sehr sichtbaren, öffentlichen Verantwortung stehen, einen Kurswechsel vollziehen.
Themen: Ungleichheit