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Energieversorgung in Deutschland unter bestimmten Bedingungen auch ohne Erdgas aus Russland möglich

Medienbeitrag vom 21. Juli 2022

Der Beitrag erschien auf oekonomenstimme.org.

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine erfordert, dass Deutschland schnellstmöglich unabhängig von russischen Erdgaslieferungen wird. Durch gesteigerte Lieferungen anderer Partnerländer, einer effizienteren Nutzung der Pipelineinfrastruktur sowie Einsparungen auf der Nachfrageseite kann dies schon im Winter 2022/23 erreicht werden.

Die Abhängigkeit von russischem Erdgas

Mehr als die Hälfte der deutschen Erdgasimporte stammten 2020 aus Russland. Russland hat diese Abhängigkeit unter Billigung der deutschen Politik über einen langen Zeitraum vorangetrieben. So war der Bau von Pipelines durch die Ostsee geopolitisch motiviert, um die Ukraine als Transitland zu umgehen. Dabei bestand das Potenzial, die deutsche Energieversorgung auf eine größere Vielfalt an Energieträgern umzustellen. Angesichts der gegenwärtigen Kriegssituation treibt die Bundesregierung diese Umstellung voran. So hat sich der Anteil russischer Erdgasimporte im Laufe des Frühjahrs 2022 bereits auf 35% reduziert. Im Folgenden skizzieren wir Szenarien, wie Deutschland kurzfristig komplett unabhängig von russischen Erdgaslieferungen werden könnte.  

Der Gastbeitrag von Franziska Holz, Claudia Kemfert, Robin Sogalla und Christian von Hirschhausen erschien am 21. Juli 2022 auf Oekonomenstimme.org.

Höhere Lieferungen von anderen Anbietern notwendig

Wegen der Abhängigkeit von Pipelines und/oder Flüssigerdgasterminals (LNG-Terminal) ist es kurzfristig nur über bestehende Infrastrukturkapazitäten möglich, die Erdgasimporte zu erhöhen. Daher kommen Norwegen, die Niederlande sowie die mit dem deutschen Markt verbundenen LNG-Terminals in Rotterdam, Dunkerque und Zeebrugge dafür in Frage. Im Verhältnis zu den Lieferungen in den vergangenen Jahren gibt es deutliche Wachstumspotenziale, wie auch die bereits gesteigerten Lieferungen der vergangenen Monate zeigen.Wir skizzieren diese Steigerungspotenziale anhand von drei Szenarien: einem Baseline-Angebot, einem maximalen Angebot und einem realistischen Angebot.

Das „Baseline-Angebot“ entspricht dem unter normalen Umständen für 2022 erwarteten Angebot auf Basis der vergangenen Jahre und aktuellen Lieferverträge.Das „maximale Angebot“ geht von einer höchstmöglichen Steigerung der Lieferungen an Deutschland aus. In Summe belaufen sich diese zusätzlichen Lieferungen auf 37 Milliarden Kubikmeter (billion cubic meters, bcm) für das gesamte Jahr 2022. Das „realistische Angebot“ berücksichtigt bei den Lieferungen aus Norwegen Wartungsunterbrechungen sowie geplante Lieferungen nach Polen ab Herbst 2022. Die niederländische Förderung ist 40 % geringer als im maximalen Szenario, was ungefähr den Lieferungen im Jahr 2021 entspricht, und die LNG-Importmöglichkeiten über das Terminal in Rotterdam werden niedriger angesetzt. Auch das realistische Angebot liegt höher als bisherige nicht-russische Lieferungen (19 bcm für das gesamte Jahr 2022).

Weitere Möglichkeiten, das Angebot in Deutschland durch EU-weite effizientere Netzbewirtschaftung zu erhöhen, sind noch nicht einberechnet. So wäre bei entsprechender Netzbewirtschaftung auch ein Handel mit Flüssigerdgas möglich, das über LNG-Terminals am Mittelmeer nach Europa kommt. Dies könnte durch Netting (sogenannte virtuelle Umkehrflüsse) in den Pipelines innerhalb Europas ermöglicht werden.

Darüber hinaus könnten die geplanten schwimmenden Flüssigerdgasterminals an der deutschen Küste die Angebotssituation für die nächsten Winter entlasten. Bei neuen Kapazitäten für den fossilen Energieträger Erdgas sollte aber ein Ausstiegsdatum mitbedacht werden, um nicht in Konflikt mit dem Ziel der Klimaneutralität bis 2045 zu kommen. Schwimmende Flüssigerdgasterminals (sogenannte Floating Storage and Regasification Units, FSRU) werden häufig in Leasing-Verträgen gechartert und bieten sich damit für die zeitlich befristete Nutzung an. Feste LNG-Terminals in Deutschland zu errichten, ist dagegen wegen der langen Bauzeiten und dem mittelfristig stark rückläufigen Erdgasbedarf nicht sinnvoll.

Kurzfristige Energieeinsparmöglichkeiten, um den Erdgasverbrauchs zu senken

Aktuelle energiewirtschaftliche Studien errechnen kurzfristige Einsparpotenziale in Höhe von etwa 18 % des Gasbedarfs in Deutschland. Darüber hinaus setzt der seit Sommer 2021 hohe Preis für Erdgas Anreize, den Erdgasverbrauch zu reduzieren.

Wir unterscheiden zwischen drei Szenarien für die Erdgasnachfrage: ein Baseline-Szenario, ein mittleres Einsparszenario und ein optimistisches Einsparszenario. Das Baseline-Szenario geht von moderaten Einsparungen aus (minus 9 % im Vergleich zum Jahr 2020), womit die Erdgasnachfrage ungefähr dem Niveau in den Jahren 2014/2015 entspricht, als ebenfalls hohe Preise am Erdgasmarkt vorherrschten. Der Erdgasverbrauch könnte v.a. im Stromsektor (ohne Wärmeerzeugung) sinken, wo aus technischer Sicht der Umstieg auf alternative Energieträger möglich ist. Dabei müsste allerdings kurzfristig mehr Kohle genutzt werden.

Das Szenario mit mittleren Einsparungen (minus 18 % im Vergleich zum Jahr 2020) ähnelt den Nachfrageeinschätzungen anderer Institute. Das Szenario basiert auf einer vollständigen Substitution von Erdgas in der Stromerzeugung (ohne Wärmeerzeugung). Darüber hinaus geht der Erdgasverbrauch in der Industrie sowie bei den privaten Haushalten stärker zurück (minus 15 %). Bei den Haushalten kann dies bspw. durch ein Absenken der Raumtemperatur, der Warmwassernutzung sowie den kurzfristig stärkeren Einbau von Wärmepumpen erreicht werden. In der Industrie besteht Einsparpotenzial durch den Umstieg auf alternative Energieträger wie Strom, Kohle oder Biomasse in der Wärmerzeugung. Allerdings ist dieser Wechsel schwierig für Prozesse, die sehr hohe Temperaturen benötigen, weswegen mit 15 % eher moderate Einsparungen für die Industrie angenommen werden.

Das Szenario mit optimistischen Einsparungen geht von einer deutlich stärkeren Nachfragereduktion im Industriesektor aus (minus 33 %). Überdurchschnittliches Einsparpotenzial wird für die Nahrungsmittel- und Chemieindustrie angenommen, in denen eine Umstellung auf andere Energieträger leichter möglich scheint und Vor- und Endprodukte, die bisher in Deutschland aus Erdgas hergestellt werden, auch teilweise importiert werden können. Dennoch wird die in diesem Szenario angenommene Reduktion des Erdgasverbrauchs vorrausichtlich mit einem temporär signifikanten Rückgang der industriellen Produktion in Deutschland einhergehen.

Bei maximalem Angebot keine Deckungslücke bei Lieferstopp aus Russland

Die Kombination der Angebots- und Nachfrageszenarien ermöglicht, die „Deckungslücke“ bei einem Stopp russischer Erdgaslieferungen zu berechnen, d.h. die Differenz zwischen Angebot und Nachfrage. Hierbei berücksichtigen wir auch die Befüllung der Erdgasspeicher, mit denen eine Bevorratung für die weiteren Wintermonate der Heizperiode 2022/23 (üblicherweise bis Ende März) vorgenommen wird.

Deutschland verfügt über vergleichsweise großzügige Erdgasspeicherkapazitäten in Höhe von 24,5 bcm, also mehr als ein Viertel der bisherigen Jahresnachfrage beziehungsweise mehr als zwei Drittel der Nachfrage in den Wintermonaten Januar bis März. Aufgrund geringer Befüllung der von russischer Hand kontrollierten Speicheranlagen im Herbst und Winter 2021/2022 hat die Bundesregierung im Frühjahr 2022 eine verpflichtende Befüllung der Speicher eingeführt. Die einzuspeichernden Mengen müssen während der Sommermonate zusätzlich zum aktuellen Verbrauch beschafft werden. Sollten die Speicher vollständig befüllt werden, wären das ab dem 1. April immerhin 17,85 bcm, bei der gesetzlich vorgesehenen Befüllung zu 90 % immer noch 16 bcm im Sommer 2022.Diese Vorgaben schränken also die Verfügbarkeit von Erdgas für die VerbraucherInnen während des Sommers ein. Gleichzeitig zeigt unsere Angebotsanalyse, dass das nicht-russische Angebot selbst im Baseline-Szenario ein Drittel der Nachfrage deutlich übersteigt, dass also nicht fast zwei Drittel der Winternachfrage in den Speichern vorgehalten werden müssten. Daher wird beim optimistischen Nachfrageszenario von einer Befüllung von 80 % ausgegangen, die bis Ende 2022 erreicht wird.

Ein maximales Angebot ergibt in Kombination mit allen Nachfrageszenarien ein ausgeglichenes Bild für das Jahr 2022 sowie den Winter 2022/23. Eine Deckungslücke ergibt sich bei einem niedrigeren Angebot. Mit einem realistischen Angebot und mittleren Einsparungen beträgt die Deckungslücke aber nur 10 %.

Fazit: Versorgungssicherheit beim Wegfall russischer Lieferungen ohne neue LNG-Terminals möglich

Wenn das deutsche Energiesystem schnell angepasst wird, könnte im Lauf des Jahres 2022 der Wegfall russischer Erdgasexporte kompensiert und die Energieversorgung im kommenden Winter gesichert werden. Bedingung hierfür ist, dass die Erdgasimporte Deutschlands aus den traditionellen Lieferländern deutlich ausgeweitet werden. Das zusätzliche Angebot reicht allerdings nur im Maximalszenario aus, um die gesamten bisherigen russischen Erdgasimporte zu ersetzen. Daher müssen Maßnahmen getroffen werden, die den Erdgasverbrauch reduzieren. Kurzfristig können Energiesparkampagnen den Verbrauch senken. Um gleichzeitig den für das für das Ziel der Klimaneutralität notwendigen Ausstieg aus Erdgas voranzutreiben, braucht es Maßnahmen, die die Energieeffizienz steigern und den Umstieg auf erneuerbare Wärme für die Industrie und private Haushalte erleichtern.

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