DIW Wochenbericht 27 / 2022, S. 384
Christian von Hirschhausen
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Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine hat die weltpolitische Lage weiter verschlechtert. Einerseits hat sich der als beendet geglaubte kalte Krieg in einen heißen Krieg mitten in Europa gewandelt, der eine Zeitenwende der europäisch/atlantisch-russischen Beziehungen einleitet. Andererseits nimmt auch die Heterogenität der internationalen geopolitischen Blockbildung zu, stimmen doch bei weitem nicht alle Länder einer Verurteilung Russlands zu.
Dem Krieg in der Ukraine kann unmöglich etwas Positives abgewonnen werden. Dennoch müssen die Bemühungen um den Klimaschutz fortgesetzt werden, die geopolitische Lage sollte als Mahnung betrachtet werden, dass die Energiewende beschleunigt werden muss. Die vorhandenen Alternativen zum fossil-fissilen Energiesystem, die sowohl Kohle/Öl/Gas als auch der Kernkraft in allen Punkten überlegen sind, werden gestärkt: Erneuerbare Energien sind heute sauberer, günstiger und steigern die dezentrale Versorgungssicherheit. Klimapolitik ist ein besonders komplexes Politikfeld an der Schnittstelle von lokalen, nationalen, europäischen und globalen Maßnahmen. „Die“ Klimapolitik gibt es nicht, vielmehr handelt es sich um ein Mehr-Ebenen-System: Die globalen Klimaverhandlungen sind zäh, haben aber Fortschritte generiert, etwa den Konsens zum Ausstieg aus der Verbrennung fossiler Energien. Die Isolierung Russlands in internationalen Gremien sowie die heterogene Blockbildung können die internationalen Klimaschutzverhandlungen schwächen, da ein Kernland mit großen Emissionen als Außenseiter auf weitere Klimaschutzbemühungen verzichten könnte. Somit wären anderen Großemittenten noch größere Anreize für Trittbrettfahrerverhalten gegeben als bisher. Angesichts der globalen Dynamik der Klimaschutzbemühungen ist die Gefahr eines Zusammenbruchs der globalen Klimaschutzbemühungen aber wohl gering.
Die Bemühungen der EU zur Unabhängigkeit von fossilen Energieimporten aus Russland und zur Steigerung der Versorgungssicherheit ermöglichen einen Fokus auf EU-weite und nationale Potenziale an Erneuerbaren. Somit bleiben die „Fit-for-55“-Ziele erreichbar, aber bitte ohne Plutonium! Auch wenn man die dort implizit angelegten Emissionseinsparungen durch den massiven Neubau von Kernkraftwerken rausrechnet, können die Ziele durch mehr erneuerbare Energien immer noch erreicht werden.In Deutschland führt die Entwicklung zu einer Beschleunigung auf dem Weg zu Klimaneutralität, im Sinne der Energiewende hier interpretiert als ein System mit 100 Prozent Erneuerbaren. Der bereits von der Ampelkoalition vorgenommene Richtungswechsel zu Erneuerbaren wird auch von Parteien unterstützt, die bisher wesentlich weniger enthusiastisch für die Energiewende eingetreten sind. Der Kohleausstieg 2030 und die Abschaltung der letzten drei Kernkraftwerke bis Ende 2022 sind möglich, ohne die Sicherheit des Energiesystems zu gefährden, wie wir jüngst in einer Studie gezeigt haben. Der Erdgasausstieg ist greifbar geworden, der Erdölausstieg beschleunigt sich. Auch auf niedrigeren föderalen Ebenen führt die aktuelle weltpolitische Lage zu verstärkten Anstrengungen zur Abkehr von fossilen Energien. Die Perspektive erheblich eingeschränkter fossiler Energieimporte und hoher Importrechnungen führt zu einer Stärkung der zivilgesellschaftlichen Unterstützung für lokale Energiewenden. Hohe Energiepreise erleichtern die Umsetzung lokaler Prosumage-Gemeinschaften, etwa durch Mieterstrommodelle und lokale Wärmenetze. Darüber hinaus fördert die Krise weitere Einspar- und Flexibilitätspotenziale, die zu verändertem Verbrauchsverhalten beitragen können.
Die VordenkerInnen der Energiewende, unter anderem E.F. Schumacher sowie Amory und Hunter Lovins sahen diese als Teil der sozial-ökologischen Transformation, in der der Ausbau erneuerbarer Energien auch zu einer friedlicheren und gerechteren Welt beiträgt. Heute, ein halbes Jahrhundert später, ist die damalige Vision einer weitgehend erneuerbaren Energieversorgung Realität geworden, die einer friedlichen Welt leider noch nicht. Dennoch sind erneuerbare Energien gerade in der aktuellen Situation die Alternative zum fossil-fissilen Energiesystem und stärken damit auch die Perspektiven für den Klimaschutz.
Dieser Beitrag ist eine leicht gekürzte Fassung der Veröffentlichung im Tagesspiegel vom 15. Juni 2022.
Themen: Klimapolitik, Energiewirtschaft
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2022-27-3
Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/261413