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So funktioniert die “Weisheit der vielen” wirklich

Medienbeitrag vom 11. August 2021

Nicht Genies, sondern die Arbeit vieler einzelner Forscher entscheidet über wissenschaftlichen Fortschritt. Allerdings nur, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind. Die Wissenschaft hat nun einen Weg gefunden, die Weisheit der vielen für sich zu nutzen.

Dieser Artikel erschien am 10. August 2021 als Gastbeitrag in der WELT.

Es ist immer wieder mal die Rede von Schwarmintelligenz, die der Intelligenz Einzelner überlegen sei. Aber ein typischer Schwarm von Vögeln, etwa von Staren, der keinem Anführer folgt, ist keineswegs besonders schlau, sondern folgt einfachen (Abstands-)Regeln, an denen sich jeder einzelne Vogel orientiert. Und die ”Weisheit der vielen”, von der auch gerne geredet wird, entfaltet sich nur unter ganz bestimmten Bedingungen, die im Alltagsleben keineswegs oft erfüllt sind. Deswegen führt die Intelligenz der vielen Aktienhändler an der Börse immer wieder zu Börsenkrächen.

Will die Gesellschaft von der Weisheit der vielen profitieren, dann muss sie die Weisheitsfindung orchestrieren. Interessanterweise ist das im Bereich der Wissenschaft besonders wichtig, bei der zwar in der Regel einzelne Genies neue brillante Ideen haben, aber erst die ”Weisheit” von vielen Überprüfungen einer neuen Idee führt zu belastbarem Wissen.

In die Wissenschaft erhielt die Weisheit der vielen im Jahr 1907 Einzug, als der berühmte Statistiker Francis Galton eine beliebte Wette auf Viehmärkten analysierte. Bei der Wette geht es darum, dass man das Gewicht eines Ochsen möglichst gut einschätzt. Wer am nächsten dran ist, der gewinnt das Preisgeld. Galton stellte nun fest, dass der simple Durchschnitt aller schriftlich abgegeben Schätzungen nahezu perfekt dem Gewicht des Ochsens entsprach, obwohl die Mehrheit der Wettenden Laien waren, die zum Teil krass unter- oder überschätzen, und kein Einziger das Gewicht genau getroffen hatte.

Die vielen liegen oft besser als komplizierte Mathematik

Inzwischen ist diese Methode gut untersucht, und wir wissen, in welchen Situationen sie funktioniert oder fehlschlägt. Zentral ist, dass die einzelnen Personen möglichst unabhängig von anderen ihre Prognosen abgeben. Der ”Schwarm” darf sich also nicht wie ein Vogelschwarm untereinander koordinieren und sich nicht an einem Führer orientieren. Und es sollte Meinungsvielfalt herrschen. Wenn alle sich zum Beispiel an derselben Theorie orientieren, sind die Prognosen in eine bestimmte Richtung verzerrt.

Am besten ist es also, wenn Prognosen schriftlich oder heutzutage über das Internet abgegeben werden und die vielen Prognostiker gebeten werden, sich nicht vorher mit anderen Prognostikern abzustimmen. Wenn Patienten bei einem schwerwiegenden medizinischen Problem eine zweite oder dritte Meinung einholen, folgen sie auch der Idee der Weisheit der vielen. Dies gilt erst recht, wenn Ärzte verschiedener Fachrichtungen sich beraten - wobei dann aber sichergestellt werden muss, dass es nicht alle einem bestimmten Chefarzt recht machen wollen.

Die Prognosen der vielen gelingen keineswegs immer - aber das ist auch nicht das Versprechen der Weisheit der vielen. Es wird keineswegs behauptet, dass die vielen immer recht haben. Aber sie liegen zumindest - wie bei Konjunkturprognosen - nicht schlechter als komplizierte Mathematik und oft auch besser.

An der Börse klappt es nicht - die Prognosen sind nicht unabhängig von einander

Zentralbanken verwenden diese Methode zum Beispiel, um die Inflation zu prognostizieren. Wobei die Unabhängigkeit der Beteiligten allerdings nicht wirklich gegeben ist, da viele sich kennen und oft miteinander reden. Die Konjunktur wird vom Ifo-Institut nicht mit komplizierten Prognosemodellen im Computer prognostiziert, sondern schlicht und einfach - und meist erfolgreich - durch eine Befragung von Unternehmen.

An der Börse funktioniert die Weisheit der vielen systematisch nicht, da das Wissen der vielen systematisch geteilt wird und die einzelnen Prognosen nicht mehr unabhängig voneinander erfolgen, was dazu führt, dass viele oder fast alle sich gleich verhalten und so das unerwünschte Ergebnis eines Börsenkrachs produzieren.

Da es wichtig ist, dass die vielen Prognostiker nicht alle die gleichen Ziele verfolgen (wie das an der Börse der Fall ist), sind zum Beispiel Prognosen von Fußball-Meisterschaften auf Basis der Marktwerte der Spieler einer Mannschaft verblüffend genau. Da die Schätzung der Marktwerte völlig unabhängig ist von Hoffnungen über den Ausgang von Meisterschaften, ist die Marktwertprognose oft auch besser als eine Prognose anhand von Wettquoten. Denn Wetten werden vom Aberglauben der Fußballfans verzerrt.

Von besonderer Bedeutung ist die Weisheit der vielen ausgerechnet in der Wissenschaft - obwohl die meisten Laien ja glauben, dass nur Genies die Wissenschaft voranbringen. Denn sie entscheidet darüber, ob neue Entdeckungen bei komplizierten Problemen wirklich Gültigkeit beanspruchen können.

Schwierig wird es, wenn Details einer Erhebung zu fokussiert sind

Das Problem, dass die Wissenschaft nicht auf Anhieb erkennt, ob ein neuer Befund wirklich belastbar ist, stellt sich insbesondere in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, da in diesen Bereichen meist keine Experimente möglich sind, die ein klares Ergebnis liefern. Freilich gilt selbst bei naturwissenschaftlichen Experimenten, dass man sich auch darüber streiten kann, ob das Ergebnis wirklich aussagekräftig ist oder von Messfehlern verfälscht wird, weil etwa bei medizinischen Studien die untersuchte Gruppe nicht genauso zusammengesetzt war wie die Kontrollgruppe.

In den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften hat man gelernt, dass viele Ergebnisse wenig belastbar sind, da sie nur für eine bestimmte Region zu einem bestimmten Zeitpunkt gelten. Oder gar von Details der statistischen Erhebung abhängen. So hat sich zum Beispiel gezeigt, dass ältere theoretische Überlegungen und ältere empirische Ergebnisse, die zeigten, dass Mindestlöhne zu höherer Arbeitslosigkeit führen, da viele Arbeitgeber einen hohen Mindestlohn nicht zahlen können, keineswegs allgemeine Gültigkeit beanspruchen können. Und dies ist ein Ergebnis der Weisheit der vielen. Das erkennt man nämlich nur, wenn man sich viele einzelne Studienergebnisse anschaut und abschätzen kann, ob und wie stark Mindestlöhne zu Erwerbslosigkeit führen.

Dass in der Wissenschaft die Weisheit der vielen so wichtig ist, liegt nicht nur daran, dass oft keine eindeutigen Experimente möglich sind, sondern auch daran, dass einzelne WissenschaftlerInnen durchaus dazu neigen, durch die Auswahl ihrer Daten, deren Bereinigung und durch die Vorgabe bestimmter mathematischer Funktionen bei der Analyse Ergebnisse zu erzielen, die ihren theoretischen Erwartungen entsprechen (um den Begriff ”Vorurteile” zu vermeiden, der gerade in den Gesellschaftswissenschaften eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt).

Die Mittelwertbildung vieler Ergebnisse ist deswegen hilfreich. Wobei aber auch der Mittelwert aus vielen Studien verzerrt sein kann, da empirische Ergebnisse, die den theoretischen Erwartungen nicht entsprechen, gar nicht erst publiziert werden und somit unerwartete Ergebnisse nicht in die Mittelwertbildung von Metastudien eingehen können.

Die Weisheit der WissenschaftlerInnen wird registriert, bevor sie startet

Erinnern wir uns: Die Weisheit der vielen funktioniert nur dann, wenn das Urteil der Einzelnen unabhängig voneinander getroffen wird. Diese Voraussetzung ist allerdings verletzt, wenn die Einzelnen einen Anreiz haben, bestimmte Urteile nicht zu äußern bzw. bestimmte Ergebnisse nicht zu publizieren. Um diese Verzerrung möglichst klein zu halten, wird die Weisheit der vielen in der Wissenschaft inzwischen systematisch orchestriert, indem Studien registriert werden, bevor sie durchgeführt werden.

Durch die sogenannte Präregistrierung soll erreicht werden, dass auch unerwartete Studienergebnisse und insbesondere die, die keinen theoretisch erwarteten Effekt finden (zum Beispiel keine Erhöhung der Arbeitslosigkeit durch einen Mindestlohn), trotzdem publiziert werden. ”Null-Effekte” waren über Jahrhunderte wissenschaftlicher Forschung hinweg nicht oder nur schwer publizierbar. Die Präregistrierung macht dies systematisch möglich, da nur anhand eines konkreten Analyseplans über die Publikation entschieden wird und nicht anhand des (erwarteten oder erhofften) Ergebnisses.

Mit anderen Worten: die Weisheit der vielen Wissenschaftler lässt soliden wissenschaftlichen Fortschritt erwarten - was die Notwendigkeit brillanter Ideen einzelner Wissenschaftlerinnen nicht ausschließt, sondern umso wertvoller macht.

Gert G. Wagner
Gert G. Wagner

Senior Research Fellow in der Infrastruktureinrichtung Sozio-oekonomisches Panel

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