DIW Wochenbericht 45 / 2019, S. 826
Jule Adriaans, Erich Wittenberg
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Frau Adriaans, Sie haben die Wahrnehmung der Erwerbseinkommensgerechtigkeit in Deutschland mit der in anderen Ländern Europas verglichen. Was wird dabei in allen Ländern gleichermaßen als ungerecht empfunden? Wir haben Menschen in vielen europäischen Ländern gefragt, wie gerecht sie die unteren und die oberen Einkommen in ihrem Land finden. Was wir dabei durchweg in ganz Europa sehen, ist, dass die unteren Einkommen, also die unteren zehn Prozent der Einkommen in einem Land, sehr häufig und überwiegend als ungerechterweise zu niedrig empfunden werden. Da identifizieren wir in ganz Europa ein Gerechtigkeitsdefizit.
Wo liegen die wesentlichen Unterschiede zwischen den Bewertungen in Deutschland und denen in anderen europäischen Ländern? Die Bewertungen sind doch recht vergleichbar. Wir haben uns vor allen Dingen erst einmal Deutschland angeschaut. Dann haben wir über alle anderen europäischen Länder einen Mittelwert gebildet. Wenn wir Deutschland mit diesem europäischen Durchschnitt vergleichen, sehen wir viele Übereinstimmungen, aber auch Unterschiede. Zum Beispiel fällt auf, dass in Deutschland die oberen zehn Prozent der Erwerbseinkommen von rund der Hälfte der Befragten durchaus als gerecht oder sogar als zu niedrig wahrgenommen werden. Das wird im Rest Europas ein bisschen ungerechter wahrgenommen.
Also wird Ungleichheit nicht automatisch als ungerecht empfunden? Genau. Es kommt darauf an, ob diese Ungleichheiten legitim sind oder nicht, und worauf sie beruhen. Unser Ansatzpunkt ist anzuschauen, ob diese Ungleichheiten gegen die Vorstellung von gerechten Verteilungen verstoßen. Und da kennen wir in der Gerechtigkeitsforschung vier verschiedene Prinzipien. Das sind Bedarfsgerechtigkeit, Leistungsgerechtigkeit, aber auch die Vorstellung, dass etwas nach dem Kriterium der Gleichheit verteilt werden sollte oder auf Basis von Anrechten. Ungleichheiten sind nicht per se ungerecht, aber sie sind dann ungerecht, wenn sie gegen diese Vorstellungen verstoßen.
Wie bewerten die Befragten in Deutschland ihre eigene Einkommenssituation? Knapp die Hälfte empfindet das eigene Einkommen durchaus als gerecht, das heißt aber auch, dass sich die andere Hälfte als ungerechterweise unterbezahlt wahrnimmt. Es gibt also schon die Wahrnehmung eines Gerechtigkeitsdefizites in Bezug auf das eigene Einkommen. Das ist wenig überraschend, denn wir wissen bereits aus der Forschung, dass das eigene Einkommen umso gerechter wahrgenommen wird, je höher es ist.
Wie sieht es bei der Frage der Verteilung von Gütern und Lasten aus? Wir haben die Menschen in Europa auch gefragt, wie sie die vier bereits genannten Prinzipien bewerten, also ob sie ihnen zustimmen oder nicht. Dabei sehen wir ein deutliches Bild. Die Verteilung von Gütern und Lasten in einer gerechten Gesellschaft sollte sich demnach vor allen Dingen an Bedarf und Leistung orientieren. Das sind zwei Prinzipien, die besonders viel Unterstützung finden. In Deutschland zeigt sich diesbezüglich eine besonders starke Zustimmung im Vergleich zum europäischen Durchschnitt.
Welche politischen Handlungsempfehlungen lassen sich aus Ihren Ergebnissen ableiten? Ein Gerechtigkeitsdefizit gibt es gerade in den unteren Einkommen – in Deutschland, aber auch in Europa. Viele Menschen sagen, die unteren Einkommen sind ungerechterweise zu niedrig. Hier könnte die Politik ansetzen. In Deutschland haben wir einen Mindestlohn, aber wir wissen aus anderen Untersuchungen, dass dieser nicht immer eingehalten wird. Ein Ansatzpunkt wäre zum Beispiel, mehr darauf zu achten, dass dieser Mindestlohn auch wirklich eingehalten wird. Aber wir wissen auch, dass Leistungsgerechtigkeit wichtig ist. Es ist also nicht nur wichtig, Löhne zu zahlen, die den individuellen Bedarf decken können, sondern auch Löhne, die die individuelle Leistung wertschätzen und anerkennen.
Das Gespräch führte Erich Wittenberg.
Themen: Verteilung, Ungleichheit, Europa, Arbeit und Beschäftigung
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2019-45-2
Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/206703